Das Märchen “Die Suche nach dem Taggeheimnis”

Die Suche nach dem Taggeheimnis – ein Märchen aus dem gleichnamigen Buch

“Die Suche nach dem Taggeheimnis” war das erste Märchen, das ich geschrieben habe.

Diese kleine Geschichte hat mein Leben verändert. Seitdem bin ich begeisterte Taggeheimnis-Sucherin.

 


Die Suche nach dem Taggeheimnis

Jakob blickte in den Himmel. Ihm war langweilig. Er war traurig – und eigentlich wollte er gar nicht auf dieser Welt sein. Alles schien ihm so sinnlos – so farblos – so eintönig – und hatte ihn überhaupt jemand richtig lieb? Trübsinnig starrte er Löcher in die Luft.

Die Suche nach dem Taggeheimnis - Telse Maria Kähler

„Hast du heute schon dein Taggeheimnis entdeckt?“, flüsterte etwas. Jakob war sich nicht sicher, ob er eine zarte Stimme oder nur seine eigenen Gedanken gehört hatte, die ihm diese Worte ins Ohr säuselten. Was Jakob dachte, war manchmal derart laut, dass er glaubte, nicht nur er selbst, sondern jede Person im Raum könnte es hören.

„Das Taggeheimnis, was ist das?“, fragte er in Gedanken zurück.

„Du kennst das Taggeheimnis nicht? Jeder Tag hat ein Geheimnis, und dieses Geheimnis möchte von dir entdeckt werden. Hast du heute dein Taggeheimnis schon entdeckt?“, flirrte es.

„Taggeheimnis?“ Natürlich hatte Jakob sich nicht mit einem Taggeheimnis beschäftigt. Erstens wusste er überhaupt nicht, dass es so etwas gab, und zweitens hatte er hier im Bett gelegen und Trübsal geblasen. „Taggeheimnis, so ein Quatsch!“

„Warum Quatsch? Kennst du dein Taggeheimnis, oder kennst du es nicht?“ Diese innere Stimme war wirklich nervend.

„Nein, ich kenne es nicht!“, rief Jakob erbost. Er war sichtlich erschrocken, als er seine eigene Stimme laut hörte. Dann brummte er: „Taggeheimnis, Taggeheimnis, was soll das sein?“

„Jeder Tag hat ein Geheimnis. Wenn du jeden Tag dein Taggeheimnis suchst, es findest und es zu lösen versuchst, wirst du wissen, warum du lebst, wer dich lieb hat und wen du lieb hast und wie die Dinge sind“, lautete die Antwort, kaum dass er die Frage gestellt hatte.

Jakob stutzte. Hatte er sich nicht gerade gefragt, ob ihn überhaupt jemand lieb hatte? Wie konnte so ein Taggeheimnis ihm verraten, wer ihn liebte? Taggeheimnis, was sollte das überhaupt sein? Und wenn es so etwas gab, wie sollte man es entdecken?

„Das ist ganz leicht …“ Das hörte sich gut an. „Du musst einfach mit offenen Augen durchs Leben gehen, versuchen, einmal hinter die Dinge zu schauen, und neugierig sein, dann wirst du heute Abend sagen können, was dein Taggeheimnis für heute ist.“

Jakob fragte sich, ob er wohl zu viel allein war und ob er jetzt wohl anfing zu phantasieren. Doch da spürte er die nasse Schnauze seines Hundes Gina an seiner Hand. Gina sah ihn erwartungsvoll mit ihren treuen braunen Augen an, als wollte sie sagen: „Worauf wartest du noch? Nun komm schon!“

Natürlich wollte Gina nur mit ihm Gassi gehen. Aber – konnte man einer so liebevollen Aufforderung widerstehen? Also sprang Jakob auf. Vielleicht könnte man bei dieser Gelegenheit ja einmal testen, was es mit der Suche nach dem Taggeheimnis auf sich hatte.

Die Suche nach dem Taggeheimnis

Zwar etwas neugierig, aber immer noch ziemlich gelangweilt machte sich Jakob also auf die Suche nach dem Taggeheimnis. Zusammen mit seinem Hund ging er in den Park. Er war diesen Weg schon oft gegangen. Nichts schien anders zu sein als sonst. Die Sonnenstrahlen fielen durch die Baumwipfel. Die Blätter hatten eine herbstliche Färbung, und in der Sonne leuchteten sie strahlend bunt. Schön sah es aus, und doch, es war nichts Besonderes. Schließlich war Herbst, und im Herbst sah es immer so aus. Kein Mensch begegnete den beiden. An den anderen Tagen waren immer Leute mit ihren Hunden unterwegs. Auch das Eichhörnchen, das Jakob sonst manchmal beobachtete, ließ sich heute nicht blicken. Nichts – gar nichts.

Enttäuscht blieb Jakob stehen. Wo war es denn nun, das Taggeheimnis, und wo sollte er eigentlich suchen? Intuitiv schloss er die Augen in der Hoffnung, diese Gedankensäuselstimme würde sich wieder melden.

Ein Gurgeln klang an sein Ohr. Jakob versuchte genauer hinzuhören. Aus dem Gurgeln wurde ein Plätschern. Jakob hörte noch genauer hin. Das Plätschern hörte sich fröhlich an. Nun öffnete Jakob die Augen und schaute sich um.

Ganz in seiner Nähe floss ein Bach. Langsam ging Jakob auf ihn zu. Wie oft hatte er schon am Rand dieses Baches gesessen? Manchmal war er mit nassen Füßen nach Hause gekommen, weil er feststellen wollte, wie tief der Bach war, und manchmal hatte er auch Steinchen in den Bach geworfen. Doch das war früher und schon lange her.

Jakob blieb stehen und blinzelte. Lichtstrahlen fielen auf das Wasser. Sie lenkten seinen Blick zu einem kleinen Wehr. Offensichtlich hatten Kinder versucht, mit Ästen und Steinen einen Staudamm zu bauen. Durch diese Konstruktion wurde das Wasser zuerst gestaut, doch an einigen Stellen lief es über den Damm hinweg und plätscherte lustig über die darunter aufgeschichteten Steine. Es sah fast aus wie ein kleiner Wasserfall. Das Plätschern klang so fröhlich, als würde das Wasser vor Vergnügen lachen. Vor dem kleinen Staudamm sah das Wasser ganz trübe aus. Unter dem kleinen Wasserfall aber war es klar. Man konnte bis auf den Grund schauen. Winzige Wassertropfen aus dem Wasserfall spritzten und hüpften munter in der Sonne. Es sah aus, als würden die Sonnenstrahlen mit dem glucksenden Wasser spielen.

Vom Zusehen und Zuhören wurde Jakob richtig vergnügt. Seine traurige Stimmung war verschwunden, und er fühlte sich fröhlich und aufgeregt. Fast war ihm nach Lachen zumute. Plötzlich fragte er sich, ob Wasser wohl auch lachen konnte.

Jakob wusste, dass Wasser ein Gedächtnis hatte. Auch viele andere Dinge wusste er über das Wasser, aber konnte Wasser auch Spaß haben?

Den ganzen Tag über beschäftigte sich Jakob mit dieser Frage. Er las noch einmal in einem Buch nach, was es mit dem Gedächtnis des Wassers auf sich hatte, und wusste auch bald, warum das trübe Wasser, nachdem es unten an dem kleinen Wasserfall angekommen war, wieder klar war. Doch ob es Spaß haben konnte, dieses Geheimnis konnte er nicht lüften.

Als Jakob abends in seinem Bett lag und über den Tag nachdachte, wurde ihm bewusst, wie viel Freude ihm die Suche nach dem Taggeheimnis bereitet hatte.

Zu entdecken, dass es ein Geheimnis gab, und zu versuchen, dieses Geheimnis zu entschleiern, war sehr spannend und aufregend gewesen. Er hatte den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend mit seinen Recherchen verbracht. Von Langeweile keine Spur.

Jetzt freute sich Jakob auf den kommenden Tag. Würde er wieder ein Taggeheimnis entdecken? Und wenn nicht, dann war das auch nicht schlimm. Die Frage, ob Wasser lachen kann, würde ihn noch ein wenig beschäftigen. Jedes Mal, wenn er daran dachte, musste er schmunzeln.

Die Suche nach dem Taggeheimnis

Jakob war dankbar, denn ihm wurde plötzlich bewusst, dass er sich nie mehr zu langweilen brauchte. Wenn es jeden Tag ein Taggeheimnis zu entdecken gab, hatte er viel zu tun, und für Langeweile würde es einfach keine Zeit mehr geben.

Glücklich und zufrieden dankte er Gott und schlief ein.