Gleicher Art

Gleicher Art – eine Geschichte aus dem Buch “Der zweite Wind

Gleicher Art

Es trafen sich zwei Topfpflanzen beim Kaffeeklatsch. Sie waren gleicher Art, wunderschöne Begonien. Die eine Begonie, ich nenne sie Frieda, war rot und kam mit einer jungen Frau namens Olga.

Olga hatte ihre kleine Topfblume lange Zeit in einer dunklen Ecke des Esszimmers stehen gehabt. Jetzt, nachdem sie eine Blume für diesen Anlass brauchte, erinnerte sich Olga an die kleine klatschmohnrote Begonie auf ihrer Fensterbank.

„Na, gut schaust du ja nicht mehr aus, aber für Carinas Begonien-Fenster wird es wohl reichen“, sagte sich Olga und verpackte die Blume in buntes Papier, um sie Carina zu schenken.

Carina, die Gastgeberin der Kaffeerunde, hatte sich Begonien für ihr neues Blumenfenster gewünscht. Liebevoll nannte sie dieses Blumenfenster ihr „Begonien-Fenster“. Ihre beiden Freundinnen nahmen die Anregung gern auf und brachten zu diesem lockeren Frauennachmittag jeweils eine Pflanze mit.

Auch Ina hatte eine Begonie mitgebracht. Sie war gelborange und strahlte in voller Pracht vor sich hin. Dicht an dicht saßen die Blüten, eine üppiger als die andere. Diese wunderschöne Begonie hieß Thea, eine Abkürzung für Theodora.

Carina freute sich sehr über die Mitbringsel ihrer Freundinnen. Liebevoll gab sie den beiden Blumen einen Ehrenplatz auf der Fensterbank ihres Begonien-Fensters. Dort standen nun die beiden, noch ziemlich allein. So einsam, fühlten sich die beiden etwas verlassen.

„Spürst du auch diese schöne, liebevolle Atmosphäre?“, begann Thea ein Gespräch mit ihrer Blumennachbarin. Sie atmete tief durch und reckte und streckte sich.

„Ich glaube, hier werde ich mich sehr wohlfühlen!“, seufzte sie.

Frieda sah sich mürrisch um.

„Noch ziemlich leer hier“, murrte sie. Etwas neidisch schaute sie auf Thea, die sich sofort heimisch zu fühlen schien. Sie selbst traute sich nicht, sich auszubreiten. Sorgsam war sie darauf bedacht, all ihre Blüten und Blätter unter Kontrolle zu halten. Das war ganz schön anstrengend.

„Woher kommst du?“, fragte Thea.

„Von einer Fensterbank im Esszimmer in der Schleiermacherstraße“, antwortete Frieda zurückhaltend.

„Ich komme aus einem Wohnzimmer in der Parkstraße. Dort stand ich zusammen mit vielen anderen Blumenfreundinnen im Erker einer Altbauwohnung. Es war so sonnig und hell. Hoffentlich ist es hier auch hell. Ich liebe die Sonne. Ohne sie kann ich nicht leben“, plapperte Thea einfach drauf los.

„Übertreibe doch nicht so! Man kann auch ohne Sonne leben. Sieh mich an. Ich bin die ganze Zeit ohne Sonne ausgekommen!“, entgegnete Frieda streng.

„Ohne Sonne?“ Theas Stimme klang erschrocken. Man spürte, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie man als Begonie ohne Sonne leben kann.

„Ja, Olga mag keine Sonne. Sie zieht immer die Rollos runter, sobald etwas Sonne in den Raum scheint. Manchmal vergisst sie, die Rollos wieder hochzuziehen, dann ist es am Tag fast genauso dunkel wie in Nacht, wenn der Mond scheint“, berichtete Frieda.

„Und du bist gar nicht krank geworden?“, fragte Thea mitfühlend.

„Oh nein, meine Blätter waren zwar nicht mehr so saftig grün und meine roten Blüten wuchsen nicht mehr so prächtig. Und manchmal fielen sie ab, einfach so, aber mir ging es gut“, sagte Frieda, doch ihre Stimme klang teilnahmslos und mechanisch.

„Du bist ohne Sonne ausgekommen?“ Thea konnte es immer noch nicht glauben.

„Aber wir Begonien sind doch Sonnenkinder. Wir brauchen die Sonne, so wie die Menschen die Liebe und die Freude brauchen!“ Thea schüttelte ihre Blüten.

„Menschen brauchen Liebe und Freude?“ Frieda begriff gar nicht, was Thea von ihr wollte.

„Wie kommst du nur darauf?“, fuhr sie fort, „Olga brauchte auch keine Liebe und Freude. Sie ist viel allein. Wenn sie Besuch bekommt, sind das immer Menschen, die stöhnen und schlechte Laune haben. Sie hadern mit ihrem Schicksal und sehen genauso düster aus wie ihre Kleidung. Olga ist immer froh, wenn die Menschen wieder gehen. Sie ist gern allein, hört ihre Musik und denkt viel nach.“

„So etwas kenne ich nicht“, entgegnete Thea. „In meiner Wohnung war es immer hell. Es wurde wunderschöne Musik gespielt, und die Menschen in meiner Wohnung haben viel gelacht. Tina hat gesungen und getanzt. Sie war immer guter Laune. Manchmal hat sie mit mir gesprochen und mich geneckt. Ich hatte einen Platz auf der Fensterbank, an dem den ganzen Tag die Sonne schien. Von dort aus konnte ich auf die Parkstraße sehen und da war immer etwas los. Oh, ich liebte es so sehr, dort zu leben. Ob es uns hier wohl gut gehen wird? Ich werde sie so vermissen, meine Leute!“

Verwundert schaute Frieda Thea an. Welche Emotionen! Sie hatte nie solche Emotionen gehabt. Früher vielleicht einmal, aber das war lange her. Ja, wenn sie genau überlegte, war das in der Zeit, bevor sie zu Olga kam. Da stand sie in einer Gärtnerei unter vielen anderen Geschwistern. Die Sonne schien ihnen auf ihre Köpfe und sie quatschten und lachten den ganzen Tag. Doch das war vor einer ganzen Ewigkeit. Es fiel ihr schwer, sich bei Olga einzuleben. Diese schreckliche Musik ging ihr durch jede Faser ihres Seins. Sie vermisste ihre Geschwister. Doch daran wollte sie nicht denken.

„Ich habe nur Heimweh!“, tröstete sie sich damals. Es war nicht nur ihr Heimweh, die dunkle Stimmung von Olga, diese Farben der Tapete, diese Menschen, die immer nur stöhnten und jammerten und wenn sie lachten, lachten sie so merkwürdig, als wäre es gar nicht echt, diese Dunkelheit, all das machte ihr zu schaffen.

Frieda ergab sich in ihr Schicksal und tat das, wofür Blumen geboren werden, sie vertraute darauf, dass alles so richtig ist, wie es ist, und versuchte zu blühen und zu wachsen. Dennoch machte ihr Dasein ihr wenig Freude.

„Was ist das für Musik?“, fragte sie plötzlich, denn sie vernahm leise Töne. Diese Töne sprachen etwas in ihrem Innern an. Plötzlich fühlte sie etwas, was sie lange nicht mehr gefühlt hatte.

„Ja, eine wunderschöne Musik, nicht wahr? Ina nennt sie immer ‚ihre Mantren‘. Sie hat diese Musik oft gespielt. Immer, wenn es in dem Zimmer Streit gegeben hatte, hat sie schnell diese Musik eingelegt. Bald darauf war die ganze Stimmung nicht mehr dumpf und erregt, sondern einfach nur schön. Ich liebe diese Musik!“, schwärmte Thea.

„Ja, die Musik ist schön, sehr schön!“, seufzte Frieda.

Langsam begann sie sich zu entspannen. Ein leises Knistern ging durch ihre Blüten und Blätter. Sie begannen, sich nach der Sonne zu strecken und sich sehnsuchtsvoll auszubreiten.

Dann seufzte sie: „Ja, ich denke, ich werde mich hier wohlfühlen!“

Und plötzlich erinnerte sie sich daran, wie sehr auch sie die Sonne liebte.