Die Sandwichfrau

Heute ist der 8. März – Weltfrauentag!

Jede von uns Frauen hat wohl ihre ganz eigenen Erfahrungen mit dem “Frau sein” gesammelt. Vor einigen Jahren las ich einen Artikel in der Zeitung der mein damaliges Gefühl perfekt zum Ausdruck brachte: “Die Sandwichfrau”.

Aus diesem Impuls ist eine Kurzgeschichte entstanden, die ich dir nicht vorenthalten möchte. Ich habe sie in dem Buch “Der zweite Wind” veröffentlicht.

 

Die Sandwichfrau

Ruhig und konzentriert sah Marlene in ihre Kaffeetasse, emsig bemüht, den Kaffeegrund ausfindig zu machen. Ein sinnloses Unterfangen. Dunkelbrauner Kaffee vermischt mit Milch ergibt eine cremig-braune Flüssigkeit, undurchsichtig für das menschliche Auge.

„Sandwichfrau“ – Marlene schob diesen Begriff von der einen Seite ihres Gehirns zur anderen, abstrahierte ihn, betrachtete ihn von allen Seiten. Die Tageszeitung lag vor ihr auf dem Tisch. In ihr ein Artikel über die Sandwich-Generation.

„Jetzt gibt es also eine wissenschaftliche Bezeichnung für uns. Wie nett!“, schmunzelte sie. „Ich bin nicht mehr allein. Nein, es ist das Phänomen einer ganzen Generation!“, philosophierte sie ironisch. „Alle befinden sich in der gleichen Situation. Ihr Alter: von vierzig bis sechzig. Eingebunden zwischen Pflege und Unterstützung der bedürftig werdenden Eltern auf der einen Seite und der Unterstützung der Kinder, die durch die langen Ausbildungszeiten immer noch am Tropf des Elternhauses hängen, auf der anderen Seite meistern sie selbstverständlich gleichzeitig Beruf und Haushalt. Darf ich vorstellen, die Sandwichfrauen!“, spöttelte sie innerlich. Bedächtig schob sie die Zeitung beiseite. Sie schaute aus dem Fenster. Missmutig versuchte sie, ihrer Ironie Zügel anzulegen.

„Ist schon was dran!“, dachte Marlene, während sie den aufziehenden Regen beobachtete. „Auch Caroline und Max befinden sich im Studium und wollen und wollen nicht fertig werden.“ Unwillkürlich musste sie an die vielen Ausgaben denken, die nicht enden wollten und dadurch ihr Leben ziemlich beschwerlich machten.

„Aber wir geben ja gerne!“, sinnierte sie, eigentlich, um sich zu beruhigen. Im gleichen Moment merkte sie, dass an diesem Gedanken etwas nicht stimmte.

„Die Kinder sollen es doch besser haben als ihre Eltern!“ Wie oft hatte sie diesen Satz schon gedacht. Heute verfehlte er seine beruhigende Wirkung völlig. Woher kam eigentlich dieser komische Satz?

An diesem Morgen hatten diese Worte den Beigeschmack eines gesellschaftlichen Dogmas, das nicht mehr in die jetzige Zeit zu passen schien. Trotzdem folgten ihm fast alle Eltern.

„Was bleibt einem denn anderes übrig? Willst du nicht aus der Konformität der sozialen Ordnung fallen, tanzt du diesen Tanz mit, behauptest sogar, es mache Spaß und man tue es gerne. Ansonsten? Böse Eltern!“, dachte Marlene bissig.

Besser gehen? „Geht es mir denn gut? Wirklich gut?“, fragte sie sich. Nur dann würde ein Besser doch Sinn machen. „Wenn es mir schlecht gehen würde, dann wäre ein Gut für Caroline und Max vielleicht ausreichend“, grübelte sie weiter. „Nicht dieser endlose Marathon Schule, Praktikum, Studium, Praktikum … und das alles auf den Schultern der Eltern, auf meinen Schultern.“

Marlene gehörte zu den Frauen, die die Erfüllung eigener Wünsche bisher für ihre Kinder gerne zurückgestellt hatte. Ganz selbstverständlich unterstützte sie die Berufsziele ihrer Kinder, betrachtete es als Karriereplanung. Nun, nach Ablauf einiger Jahre, zermürbte sie diese Endlosigkeit und diese Maßlosigkeit eines Anspruches, den alle für ganz selbstverständlich zu halten schienen. Niemand sah, welche Opfer es den Eltern abverlangte.

Es war nicht so, dass Marlene ihre Kinder nicht gern unterstützt hätte, im Gegenteil. Und doch fragte sie sich, ob sie bei dem ganzen Spiel wirklich eine freie Wahl gehabt hatte? Eigentlich müssten die Kinder mit Ende zwanzig doch längst unabhängig sein und eigenes Geld verdienen.

Während sie ihre Kaffeetasse in der Hand hielt, drängte sich in ihr der Eindruck auf, es handle sich um eine Verpflichtung, die ihr auferlegt worden war – einer ganzen Generation von Eltern aufgebürdet wurde – und der sich kaum einer entziehen konnte. Denn alle machten mit! Eltern unterstützen ihre Kinder! Das ist doch ganz selbstverständlich!

Wo waren die Zeiten, in denen das bedeutete: Schule, Beruf, Ende. Dann waren die Kinder flügge, selbstständig. Spätestens mit Anfang zwanzig konnten sie für sich selbst sorgen.

Heute waren fünfundzwanzig bis dreißig Jahre Unterstützungsarbeit nichts Ungewöhnliches, meist verbunden mit finanziellen Zuwendungen. „Fünfundzwanzig Jahre für Caroline, und weil Max erst drei Jahre später geboren wurde, noch einmal drei Jahre dazu. Achtundzwanzig Jahre!“, dachte Marlene. „Mein halbes Leben.“

Marlene und Klaus hatten spät geheiratet. Als Caroline geboren wurde, war Marlene fast dreißig. Sie hatte eine kaufmännische Berufsausbildung abgeschlossen und arbeitete als Sekretärin. Kinderkrippen gab es damals noch nicht. Kindergartenplätze waren rar. Also gab Marlene nach Carolines Geburt ihre Berufskarriere auf. Als Max geboren wurde, hatten sich die Aussichten auf einen Kindergartenplatz verbessert. So kam Max mit drei Jahren in den Kindergarten, Caroline besuchte die Schule und Marlene probierte den Wiedereinstieg in die Berufswelt.

Der Anfang war schwer, sehr schwer. Nach etlichen Jahren Familienarbeit hatte sich im Sekretariatswesen vieles verändert. Es fiel Marlene nicht leicht, im Berufsalltag wieder Fuß zu fassen. Sie besuchte Kurse und Seminare und nutzte die Abendstunden, um ihr Wissen aufzufrischen. Natürlich konnte sie nur halbtags arbeiten, denn eine verlässliche Grundschule gab es noch nicht. Die innere Zerrissenheit zwischen Berufstätigkeit, Kinderbetreuung und Haushalt machte ihr zu schaffen. Der Alltag war anstrengend. Insbesondere die Zeiten, in denen die Kinder krank waren, brachten sie an die Grenzen der Belastbarkeit.

Wie schnell doch die Jahre vergangen waren. Marlene beneidete Klaus nicht, der Tag für Tag dafür sorgte, dass das Grundeinkommen für ihre kleine Familie gesichert war. Auch er brachte Opfer, musste viel arbeiten. Marlenes Verdienst nutzten die beiden für die notwendigen Investitionen, die Klassenfahrten und die Studiengebühren. Einmal im Jahr gönnten sie sich eine kleine Reise.

Warum sah niemand, dass Familienarbeit Arbeit, harte Arbeit ist? Aus ökonomischer Sicht ist Familienarbeit ein Scheiß-Job. Kein Feierabend, kaum Urlaub, immer einsatzbereit, alles vollkommen unbezahlt.

Und doch war Familie für Marlene das größte Glück auf Erden. Mit niemand hätte sie tauschen wollen. Sie liebte es, ihre Kinder und ihren Mann zu umsorgen.

Kleine Kinder zu umsorgen ist etwas anderes, als große Kinder zu unterstützen. Von kleinen Kindern bekommen Mütter jeden Tag so viel Liebe zurück, dass die Quelle der Kraft selten versiegt.

„Kleine Kinder, kleine Sorgen. Große Kinder, große Sorgen“, dachte Marlene. Zu den Sorgen gehörten die Geldsorgen. Beide Kinder im Studium. Dazu die Bafög-Regelungen, die wenig Spielraum für Eigenes ließen, zumal, wenn man sich in finanziellen Grenzgebieten bewegt.

„Durchhalten! Wir tun es für unsere Kinder!“ So blieb Marlene in ihrem Job, den sie längst nicht mehr liebte, und bekam von ihren Kindern: „Ja, was soll man sagen. Sie sind erwachsen. Sie müssen ihr eigenes Leben gestalten!“ Mit diesem Spruch versuchte ihr Verstand, den Riss in ihrem Herzen zu kitten.

Das, was sich Marlene als Projekt Familie vorgestellt hatte, in dem sich Geben und Nehmen im Einklang befinden, hatte sich zu einer Einbahnstraße entwickelt.

Marlene seufzte, rührte mit dem Kaffeelöffel in der Kaffeetasse. Vielleicht würde sich ja mit etwas Bewegung der Boden der Tasse endlich zeigen. Bewegung?

Wieviel Bewegungsfreiheit bleibt einem, wenn das finanzielle Korsett eng geschnürt ist? Klaus träumte von einem neuen Auto, Marlene von einer Kreuzfahrt.

Jeden Freitag ging Marlene zum Yoga. Die bewusste Wahrnehmung des Körpers, Yogaübungen und das rhythmische Atmen sollten ihr helfen, wieder bei sich selbst anzukommen und ihre Stressbeschwerden zu reduzieren. Ein weiteres Pflaster, das die Wunden verdeckte, zur Heilung ihres Unwohlseins jedoch wenig beitrug.

Für einige Zeit ging es Marlene tatsächlich besser. Dann hatte ihre Schwiegermutter einen kleinen Unfall. Nichts Schlimmes. Sie war im Badezimmer gestürzt und hatte sich die Hand gebrochen. Der Vater von Klaus war seit zehn Jahren tot. Seine Mutter lebte seitdem allein.

Marlene hätte es für vermessen gehalten zu behaupten, Klaus würde die Sorge um seine Mutter ihr überlassen. Er tat sein Bestes. Und doch klebten die vielen Kleinigkeiten, angefangen bei den Handreichungen des Alltags, den Arztbesuchen bis zu den Behördenschreiben, an Marlene wie eine Fliege am Honigbrot. An das gemeinsame Kaffeetrinken und das einfach ein bisschen Reden, um die Einsamkeit der alten Frau zu lindern, wollte sie gar nicht erst denken.

Sie tat es ja auch gerne, erinnerte sich an den Vertrag der Generationen über das Geben und Nehmen, wollte ihren Teil leisten, denn die Eltern von Klaus hatten dem jungen Ehepaar mit kleinen Kindern oft und viel geholfen. Und nun waren eben sie dran.

Marlene reduzierte ihre Stundenzahl im Job. Trotzdem musste sie ihren Tag straff organisieren, damit es allen gut ging. Allen? Wirklich allen? Ihrem Körper ging es schon längst nicht mehr gut.

„Wo bleibe ich?“, fragte Marlene sich. Unglücklich lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und sah aus dem Fenster. Tränen schossen ihr in die Augen. Wie es sich anfühlt, entspannt und voller Freude zu sein, hatte sie längst vergessen.

Wehmütig erinnerte sie sich daran, wie stolz sie darauf gewesen war, sich als junge Frau den Beruf selbst aussuchen zu können. Sie wusste, in der Generation ihrer Mutter war das längst noch keine Selbstverständlichkeit gewesen. Marlene war froh, einen eigenen Beruf zu haben. Eigenes Geld verdienen zu können – unabhängig zu sein. Das eigene Geld floss in die Familie. Unabhängig von ihrem Mann war sie – wenn es hart auf hart kam. Ja, dann würde sie überleben können. Irgendwie.

Manchmal fragte sich Marlene, wie viel Freiheit sie bei der Wahl ihrer Berufskarriere denn wirklich gehabt hatte. Sie wollte Kinder und hatte sich für eine Familie entschieden. Dieses Anliegen hatte ihre Berufskarriere ganz entschieden mitgeprägt.

„Eigentlich sorge ich mit dieser Entscheidung ja fürs Gemeinwohl. Ich habe künftige Steuerzahler großgezogen und sorge zusätzlich dafür, dass sie gut ausgebildet sein werden“, dachte sie. „Vollkommen unentgeltlich erledige ich diesen Job!“

„Freie Wahl? Welch ein Schwindel“, seufzte Marlene. „Eine Augenwischerei, die man fein herausgeputzt hatte, nur um zu vertuschen, dass die Frauen meiner Generation trotz der ganzen Emanzipationsbewegung immer noch nicht fair behandelt werden.“

Fair wäre, wenn der Staat die Arbeit in der Familie – vor allem, wenn in dieser Familie Kinder heranwachsen – und die erwerbsmäßige berufliche Tätigkeit einer Frau gleichbehandeln würde. Der Verzicht auf eine Vollzeit-Berufstätigkeit zu Gunsten der körperlichen und geistigen Gesundheit ihrer Kinder wurde quittiert mit geringeren Rentenansprüchen. Nun segelte Marlene trotz aller Bemühungen und Kraftanstrengungen sanft einer Altersarmut entgegen.

Natürlich, sie hätte sich anders entscheiden können. Statt Familienarbeit und Ruhepol für die Familie, hätte sie den ganzen Tag ihrem Beruf nachgehen können. Doch dann hätte sie ihre Kinder in fremde Hände geben müssen! Kleine Kinder brauchen ihre Mutter, zumindest in den ersten drei Jahren, die Jahre, die als die wichtigsten in der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen gelten. Statt ihren Kindern Fürsorge und Liebe zu geben, hätte sie dann womöglich Bindungsstörungen und Trennungstraumata riskieren müssen. Nein, dieser Preis war ihr zu hoch gewesen!

Alle ihre Entscheidungen hatte Marlene wohlüberlegt getroffen. Es waren gute Entscheidungen gewesen, in deren Mittelpunkt immer das Wohl ihrer Familie stand. Auch aus heutiger Sicht würde sie sich immer wieder genau so entscheiden.

Und doch hatte sie eine Komponente in diesem Spiel außer Acht gelassen – sich selbst. Dass sie genauso gut für sich selbst hätte sorgen müssen, wie sie es für die anderen tat, hatte sie bei dem ganzen Stress aus den Augen verloren.

Marlene musste an einen Artikel in einer Frauenzeitschrift denken. Dort hatte sie gelesen, dass es zur Natur des Menschen gehören würde, dass jeder zuallererst an seine eigenen Belange denkt. Sobald man dies als Frau erst einmal als Tatsache begriffen hätte, würde man auch verstehen, warum man bei seinen Mitmenschen immer nur an zweiter Stelle steht. Wollte man langfristige Unerquicklichkeiten für das eigene Leben vermeiden, wäre man gut beraten, sich immer gut um seine eigenen Belange zu kümmern.

„Die Verantwortung für mich, meinen Körper, meine Gefühle, meine seelische Verfassung und für meine eigenen finanziellen Belange muss ich in die eigenen Händen nehmen!“, stellte Marlene fest. Das war nichts Neues. Sie hatte es immer gewusst, es sogar für selbstverständlich gehalten. Doch irgendwann hatte sie angefangen, es einfach zu vergessen.

Sich dieser Tatsache neu zu stellen, fiel Marlene nicht leicht, obwohl sie an diesem Vormittag die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit glasklar erkennen konnte. Sie schluckte, denn es tat weh.

„Es ist mein Leben“, resümierte Marlene. Dann machte sie sich bewusst, dass sie das Wertvollste war, was sie in ihrem Leben besaß und dass sich jeder Aufwand lohnen würde, ihrer Selbstfürsorge eine neue Chance zu geben.

„Endlich ein Weg, meinen Frustgefühlen Adieu zu sagen“, flüsterte Marlene. „Sie haben doch tatsächlich schon fleißig damit begonnen, Bitterkeit in mein Herz zu pflanzen!“ Wieder lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, diesmal sehr entspannt. Und plötzlich sah sie sich selbst vor ihrem inneren Auge – als Sandwichfrau.

Oben drückten die Kinder, unten die Alten, zwischen diesen beiden Weißbrotscheiben auf einem grünen Salatblatt lag sie als Mettwurstscheibe, begleitet von einer Scheibe Käse, das war Klaus. Die würzige, mayonnaiseartige Sandwichcreme, die dieses ganze Konstrukt schmackhaft machen sollte, war ihr Leben. So lag sie da, unfähig, sich viel zu bewegen, gehalten und getragen, zerquetscht und zermalmt, bis schließlich nichts mehr von ihr übrig blieb. Ein Sandwich eben.

„Achtzig Prozent der Frauen sind mit ihrer Situation zufrieden“, stand in dem Zeitungsartikel. Marlene nippte an ihrem Kaffee. Er schmeckte bitter.

Telse Maria Kähler


Diese Geschichte stammt aus dem Buch “Der zweite Wind”.

 

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