Das Leben ist ein Strom

Manchmal tut es gut sich daran zu erinnern, dass das Leben weitergeht, egal ob wir gerade keine Zeit haben, in einer Aufgabe feststecken oder den Alltag genießen. Die Zeit fließt dahin – auch ohne unser Zutun.

Und so stellte ich eines Tages fest: Mein Leben ist ein Strom …


Das Leben ist ein Strom

Der Strom meines Lebens ist ein großer Fluss. Gemächlich fließt sein Wasser dem Meer entgegen. Sein Wasser ist braun, voller rotem, fruchtbarem Sediment und voller Leben, gesammelt auf einer langen Reise von der Quelle zum Jetzt.

An schönen Tagen, wenn die Sonne scheint, spiegelt sich der Himmel in der Wasseroberfläche. Dann ist sein Wasser tiefblau, ein blauer Strom, dessen Strömung mich zum Meer hin trägt.

Am Ufer gibt es flache Stellen. Dort ist das Wasser klar, so klar, dass man den Fischen beim Spiel zusehen kann, während die Libellen im Sonnenlicht tanzen.

Mein Fluss ist breit und sanft, ausufernd und lebensspendend, hat Stromschnellen und ruhige Buchten, will frei fließen, sich entfalten.

Ich wollte ihn begradigen, ihn in feste Muster zwängen, gab ihm Strukturen, die nicht die meinen waren. Ich wollte ihn eindämmen, seine Vielfältigkeit beschneiden, ihn nach meinem Willen formen, ihn mit vorgefertigten Plänen manipulieren – und vergaß, der Strom bin ich.

Wenn die Fluten meines Stroms über die Ufer treten, was dem Nil gleich jedes Jahr passiert, macht das nahrhafte Wasser die Erde fruchtbar. Alles beginnt zu wachsen und zu blühen.

Erfahrungen, Erlebnisse, Gefühle – als Staub manifestiert, treiben im Wasser meines Lebensstroms und nehmen mir die Sicht auf den Grund. Sie scheinen zu verschmutzen und machen ihn doch nur nahrhaft.

Viel Müll treibt im Wasser, Unrat, den andere mir einst zuwarfen und der jetzt im Wasser meines Lebens treibt – ohne Sinn. Wasser kann sich selbst reinigen – heilen –, kann ich es auch?

Es gibt Orte in meinem Lebensstrom, da schmeckt das Wasser bitter. Säureartige Flüssigkeit, unsichtbar zusammengehalten wie in blasenförmigen Gefäßen und doch so durchlässig und jederzeit bereit, sich mit dem nahrhaften Wasser des Flusses zu vermischen.

Gefangene Gefühle, einer ätzenden Säure gleich, haben das Potenzial, den Fluss meines Lebens zu vergiften. Das macht mir Angst.

Wenn ich mich wohlig dem Auf und Ab der Strömung überlasse, geborgen in dem Wissen, alles fließt und ich bin ein Teil davon, fühle ich mich wohl. Ich schwimme in meinem Lebensstrom und weiß, ich werde getragen, denn es ist mein Fluss, mein Leben – mein Schicksal.

Es gibt Biegungen, Windungen, wie ein Wurm schlängelt sich der Fluss durch die Landschaft, mal durch Ebenen, auf deren fruchtbarem Land mir blühende Bäume entgegenwinken, mal durch kahle Felsregionen, die durch ihre starre Schroffheit so viel Schönes in sich bergen, dass mir das Herz aufgeht.

Hier bin ich eingebettet, bekommt mein Lebensstrom eine feste Form. Hier muss er hindurch, ohne dass er über Veränderungen nachdenken kann. Jahr für Jahr. Immer gleich. Egal, ob quirlige Fluten sich zum Meer hin ergießen oder der Fluss nur wenig Wasser führt, auf diesem Teil der Reise ist alles vorgeprägt, vorbestimmt. Nur Jahrtausende lange Geduld schafft tiefere Rillen im harten Fels. Wasser ist geduldig. Es fließt und fließt.

Warum mache ich mir Gedanken, wie ich schneller oder besser sein kann? Der Fluss trägt mich in seiner Zeit ans Ziel.

Mit kraftvollen Bewegungen versuche ich mich seiner Strömung entgegenzustellen, will die Geschwindigkeit selbst bestimmen. Wenn hektisches Hin und Her mir die Kräfte raubt, mich erschöpft, vielleicht sogar krank macht und ich das Gefühl von Geborgenheit und Getragensein vergessen habe, bin ich dann noch ICH?

Gemächlich lasse ich mich treiben, verbunden mit der Weisheit der Natur, werde mir der Fruchtbarkeit meines Tuns bewusst. Getragen durch die Melodie des Lebens, fließe ich dem Meer entgegen, genieße die Sonne, den Regen, den Wind, den Schnee. Lasse mich tragen, bin eins mit mir und meinem Leben.

Die Strömung nimmt an Geschwindigkeit zu. Nicht immer ist das Leben ein gemächliches Dahingleiten. Manche Lebensphasen zeichnen sich durch eine schnellere Gangart aus. Familie, Freunde, Beruf – das Management der vielen Kleinigkeiten, der Alltag mit seiner Geschäftigkeit –, wie Stromschnellen hindern sie mich am sanften Dahingleiten.

Jahre verrinnen, als wären sie ein Tag. Hindernissen gleich tauchen Krisen auf. Der Nebel hielt sie lange verborgen, nun stehen sie vor mir, groß und erschreckend. Voller Angst kämpfe ich hektisch mit dem Wasser, als hätte ich mich in einem unsichtbaren Netz verfangen. Will mich befreien, will frei sein! Und bewirke doch das Gegenteil.

Mein angstvolles Aufbäumen gegen die Fluten, ein Kampf, den ich nicht gewinnen kann. Auch durch die Krisen trägt mich der Strom des Lebens mit seiner Kraft, mit seiner Güte. Ich muss ihm vertrauen, ihm zutrauen, dass das Leben es gut mit mir meint.

Dem Untergang nah, vom Kämpfen müde, vom Gegen-den-Strom-Schwimmen enttäuscht, ergebe ich mich – lasse los – gebe mich hin. Nun fließe ich wieder, werde getragen, kann die Sonne auf meiner Haut spüren. Krisen kommen und gehen – alles fließt. Im Strom meines Lebens kann ich schwimmen, mich von der Strömung ziehen lassen – weiter, weiter dem Meer entgegen.

Eine Insel taucht auf – mitten im Strom. Welchen Weg soll ich nehmen? Links oder rechts? Oder will ich verweilen? Auf dem Trockenen sitzen? Wenn sich die Fluten teilen, muss ich mich entscheiden, will ich mich entscheiden. Nur wenn ich den Weg selbst wähle, habe ich Lust zu gestalten. Weiter, weiter – der Freude entgegen.

Meinem Lebensstrom ist es egal, wie ich mich entscheide. Er trägt mich dem Meer entgegen, nur das ist sein Ziel. Welche Hindernisse ich wähle, wie schnell ich schwimme, ob ich tauche oder verweile, ist ihm nicht wichtig – er fließt in seinem eigenen Rhythmus.

Ich schwimme nach links, will das Unbewusste erkunden, tauche zum Grund, schaue mich um. Entdecke Geheimnisse, gerate in Angst. Mein Strom trägt mich weiter, doch mein Herz sucht nach Halt.

Panik erfasst mich, ich schreie nach Hilfe, ergreife den rettenden Ast und klammere mich fest. Nun gibt der Baumstamm mir Halt. Ich vergesse zu schwimmen für lange, lange Zeit.

Der Strom trägt mich weiter, bis ich erwache. Dann lasse ich los, kann wieder schwimmen – aus eigener Kraft. Fühle meine Stärke, höre auf zu fragen und lasse mich tragen.

Die Nacht küsst den Morgen, der Morgen den Tag. Nur wenn ich selbst schwimme, bin ich geborgen und frei im Strom meines Lebens.

 

“Das Leben ist ein Strom” ist eine Kurzgeschichte aus dem Buch “Der zweite Wind